Kataloge
Erich Grüns Bilder zum Alten Testament
"Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser." Unzähligen Generationen haben sich diese Worte, mit denen im Ersten Buch Mose die Schöpfungsgeschichte beginnt, eingeprägt, und immer wieder hat über Jahrhunderte hin bis in die Gegenwart nicht nur der biblische Bericht über die Erschaffung der Erde und des Menschen die Phantasie der Künstler entzündet, dem Wort das Bild an die Seite zu stellen. Auch die übrigen Geschichten des Alten Testaments: Noah und die Sintflut, der Zug der Kinder Israel durchs Rote Meer, die Posaunen von Jericho, der Kampf Davids mit Goliath, Salomo und die Königin von Saba, die Männer im Feuerofen: diese unerhörten Begebenheiten und dazu alle die anderen Erzählungen, in denen Wirklichkeit und Wunder auf oft unbegreifliche Weise verknüpft sind, bedeuten für Maler und Zeichner noch immer eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration. Wo gibt es sonst denn so zeitlos-große gleichnishafte Themen, solch einen Spiegel eines nicht endenden Dialogs zwischen Gott und den Menschen, zwischen einem Gott, der verflucht und straft, der verheißt und erfüllt?
Die Faszination, die von der geistigen Kraft und der poetischen Schönheit des Buches der Bücher ausstrahlt, ist noch immer außerordentlich, selbst in einer Zeit wie der unsrigen, in der das Fundament des christlichen Glaubens mehr oder weniger tiefe Risse aufweist. Auch der in Hannover lebende Maler Erich Grün fühlte sich hingezogen zu den Geschichten der Bibel und entschloß sich, die wesentlichsten Szenen aus dem Alten Testament in Bilder umzusetzen. Ermutigt wurde der 1915 geborene Künstler, der seine Ausbildung bei Moritz Melzer in Berlin und bei Erich Rhein sowie Adolf Vogel in Hannover erhielt, durch die 60 Aquarelle, die er 1980 zu dem finnischen Nationalepos Kalevala gemacht hatte. Darin war es ihm gelungen, Naturbeobachtung und innere Gesichte eigenwillig verbindend, die mythische Frühzeit des Landes der tausend Seen in ihrer Urgewalt lebendig werden zu lassen.
Zur Vorbereitung des neuen Vorhabens gehörte das gründliche Lesen bzw. Wiederlesen des Alten Testaments, auch Bücher über die Geschichte Israels und der Phönizier halfen Erich Grün, seine Vorstellungen zu entwickeln. Als er mit der Arbeit an der insgesamt 99 Blätter umfassenden Folge im Format 61 x 48cm begann, hatte er sich so sehr in die selbstgestellte Aufgabe vertieft, daß er nur drei Monate benötigte, um den Plan auszuführen. Der Künstler, voller Respekt gegenüber dem hohen Anspruch des Themas, wußte, daß es darauf ankam, etwas von dem stürmischen Atem, der die Geschichte Israels in allen ihren Höhen und Tiefen durchweht, spürbar werden zu lassen. Irdisches und Überirdisches, Menschenschicksal, wie es sich bis auf den heutigen Tag überall wieder ereignet, und göttliches Wirken galt es ahnungsvoll zu erfassen und darzustellen. Historische oder vermeintlich historische Richtigkeit und Genauigkeit bei der Schilderung von Waffen, Gerät oder Kleidung kümmerte Grün ebensowenig wie die reiche Überlieferung der religiösen Malerei.
Frei von Bindungen solcher Art trägt er die biblischen Geschichten vor. Dabei spiegelt er das Geschehen vor allem im menschlichen Gesicht wider, dem er mittels seiner der Malweise Emil Noldes verwandten Aquarelltechnik ungewöhnliche Ausdruckskraft zu geben versteht. Aus dem farbigen Spiel auf der nassen Malfläche wachsen die Gestalten, Visionen gleich, hervor; Aquarellfarbstifte dienen dazu, Einzelheiten, soweit erforderlich, hervorzuheben. Doch das geschieht stets großzügig und nur andeutungsweise, denn die Dynamik der Komposition darf nicht beeinträchtigt werden. Die Blätter sind teils in einem vorherrschenden Farbton angelegt, teils beziehen sie ihre Spannung aus starken Farbkontrasten. Elemente gegenständlicher und abstrakter Malerei ergänzen einander wie selbstverständlich, einige Motive, so die Schöpfungsgeschichte, fordern die abstrakte Malerei geradezu heraus.
Die vehemente, bis zum Schluß durchgehaltene Ausdruckskraft von Erich Grüns Bildern zum Alten Testament reißt den Betrachter mit, macht ihn zum ergriffenen Zeugen der Freuden und Leiden der Kinder Israel und der Herrlichkeit des Herrn, der, wie es im Buch Hiob heißt, große Dinge tut und doch nicht erkannt wird.
Rudolf Lange